DAS KINN
Toben Piel geht gern auf Friedhöfe. Orte der Ruhe und Idylle. Abstand finden, Vergänglichkeit erahnen. Das Danach als konkreten Ort erkunden. Auch sein Debut-Album RUINENKAMPF stammt aus diesem Mindset. Dort geht er in Distanz, um dann mit Anlauf auf den Punkt zu kommen.
Nach Ruhe und Idylle klingt das nicht. Kassettenszene, 80er Jahre, Stakkatogesang, Synths zwischen DAF und den Kosmischen Kurieren. Ästhetik des Untergrunds. Reißende Melodieströme, Raffinesse, unentwegt pendelnd zwischen Hymne und Abriss. Dieser krasse, erhobene Kraftgesang. Acht Stücke Zuhören, ohne eine Sekunde des Abdriftens. Wie geht das? Wie erschafft man so etwas? Nun, der Mit-40er aus FFM, jung geblieben und hungrig, hat eben gut gelernt: Bei Antitainment (2005-2010), danach zusammen mit der großen Charlotte Simon bei les trucs, im Kontext seines Kassettenlabels MMODEMM, aber auch als Musiker für diverse Theaterbühnen. Zum ersten Mal hat er mit DAS KINN nun das Gefühl, Musik im Sinne einer Selbstbefreiung hervorgebracht zu haben. Vielleicht liegt das am Alter. Da, wo er zuvor oft verkopfte, die Kontrolle suchte, Dinge zerdachte, nicht aufhören konnte im Sinne eines Perfektionismus, hat er sich diesmal ein loses Konzept grundiert, um dieser Selbsterkenntnis entgegenzutreten: Schnelligkeit. Fokus. Abschluss, Absprung. Nicht in Abwertung seines bisherigen Werkes – sondern vielmehr im Sinne einer Geistesgegenwärtigkeit, diese Erfahrungen walten zu lassen, ohne sich ihrer bewusst zu sein. Es ist ihm äußerst gut gelungen!
Jamais-vu, der erste Track, ist in seiner eröffnenden Position wohlgewählt: Aus dem einzigen Coverstück, zurückgehend auf Teurer denn je, ein Underground-Projekt aus dem avantgardistischen Berlin der Vorwendezeit, das klingt wie Kurt Weill im einstürzenden Neubau, hat er einen Auftakt moduliert, der direkt in höchste Höhen steigt: Hymnisch, bedacht, direkt auf dem Peak des Pielschen Handwerks. Auch wenn es nicht Toben Piels Worte sind, wirken sie dabei selbstbezeichnend: Ich bin eine Schaufensterpuppe / Der kein Schaufenster gefällt. Das ist das Spannungsverhältnis, in dem wir uns ästhetisch befinden. Oneironaut sei wachsam dann ballert los, peitschend und darin eingängig, hier dann im Pielschen Stakkato und bereits in voller Entfaltung seiner surrealen Kunstsprache. Geht gut rein! Ruinenkampf schließt dort an, gibt dem Kunstwort einen hektischen Raum, nimmt mit in die Wüstungen des Brachlands, durch das sich das Kinn bewegt. Im heftigen Alle rüsten auf, das in seiner Aggression auch den Straßenrap Frankfurts assoziiert, wird schonungslos und schweißtreibend der Widerspruch aus Selbstoptimierung und Weltzerstörung besungen – oder sagen wir: bespuckt –, dem wir uns ausgesetzt sehen, uns aussetzen: Wofür macht ihr euch eigentlich fit? Für die letzten Tage? Souterrain, in der Albummitte, bringt anschließend einen willkommenen Moment der Ruhe. Doch das ist mehr als ein Interlude. Das Kinn schreitet durch eine weite Kuhle, die Drohnen, die Kampfjets und Luftschiffe am Himmel, sie sind für die Dauer eines Spaziergangs weit entfernt und ungefährlich. Wir finden eine zarte Besinnung. Auch, wenn das Souterrain im Boden liegt, wir bald aus der Kuhle wieder in die bewussten Ruinen klettern müssen, meint man hier losgelöst über den Wolken zu schweben. Das ist gerade im Kontrast zur Gewalt der sieben anderen Stücke ein wirklich schöner Moment, instrumental, ohne Beat, dafür mit Saxophon und in Stimmung eines bluesigen Neo-Noirs. Wieder oben treffen wir auf Die Ratten, expressiv, aggressiv: Die Ratten suchen ihren Fänger / Sie suchen und finden die Erlösung im Volksempfänger. Abgesang, auch politisch zu lesen, auf jene gegenwärtige, weitreichende Idiotie, die sich aus allem herauskotzt und die man sich in ihrer grenzenlosen Dummheit nicht ausdenken kann. Im Tempel des Todes, der dramaturgisch das große Finale vorbereitet, den Spagat schafft, sich kraftvoll zu schleppen, findet darauf eine Reflexion statt: Ich, der Mensch in dem besungenen Wahnsinn, bin ein Körper, bin ein Tempel. Ich werde mit der Zeit darin zerfallen. Das ist heftig! Fast versöhnlich kommt dann Nichts, zu guter Letzt, mit seinen pseudotherapeutischen Sprachsamples, die dem performten Leben am Abgrund Beratung bieten. Doch das Kinn entgegnet mit Zynismus. Egal was aufgebracht wird an den kleinen und großen Häppchen der gesungen Alltagsbeobachtung, Toben Piel schmeißt jeder Phrase sein Nichts entgegen! Existentialismus bis zur Verzweiflung, kunstvoll aufgefangen im sardonischen Vortrag: Du befindest dich genau hier und du empfindest nichts / Es ist okay.
Musik ist die einzige Kunstform, die gleichzeitig einreißen und aufbauen kann. Diesem Ereignis der Gleichzeitigkeit haben wir beigewohnt. Als Dunst und Staub sich dann am Ende in den scharfkantigen Trümmern lichten, steht inmitten dieser Klanggewordenen Ruinen: das Kinn! Prophet, Zeuge, Söldner.
Im Kellerstudio, Bunker-artig unter den siffigen Bürgersteigen Frankfurts und ganz abgeschirmt von der Welt, ist in diesen acht Stücken eine fesselnde Erzählung entstanden. Ein Album, das treibt, einsaugt, gleichzeitig einen Eskapismus vertont und das Brennglas auf die Gegenwart ausrichtet. RUINENKAMPF wirft dabei eine Frage auf, die auch Toben Piel nicht beantwortet, beantworten braucht: Hören wir hier die Geschichte einer Post-Apokalypse – oder befinden wir uns im Hallraum der Gegenwart? Nun, wir alle wissen: diese Grenze ist unlängst verwischt – und dieser Umstand lässt sich hier hören. So kommen im musikalischen Ruinenkampf der Schrecken, das Absurde, der Hohn und die Wut in Piels stierem Blick auf das Fatale zusammen, das er in seiner Kickbox-Phonetik eindringlich besingt. Ohne in der einhergehenden Brutalität den Sinn für das Schöne zu verlieren: In dieser Musik, die zwingend und eingängig ist, steckt ja auch etwas sehr Positives, wohnt doch dem Zugeständnis an Pathos und Dramaturgie, die hier gleichsam strotzen, eine Lebensbejahung inne. In den Trümmern der Zivilisation nämlich wird um etwas gekämpft, das von ihr bleiben soll. Es ist doch so: Wer mit einer solchen Wucht eine Geschichte erzählt, will, dass sie weitergeht. Kein Verdruss also. Das Kinn ist gereckt, im irren Stechschritt geht es weiter, auf den Bruchstücken unserer Zeit. Don Quijote kommt heute aus Frankfurt und singt Dada! Auch er hat trainiert.
–Hendrik Otremba
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